Reform des Bundestagswahlsystems by Joachim Behnke Frank Decker Florian Grotz Robert Vehrkamp & Philipp Weinmann
Autor:Joachim Behnke, Frank Decker, Florian Grotz, Robert Vehrkamp & Philipp Weinmann
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Bertelsmann Stiftung
veröffentlicht: 2017-11-15T00:00:00+00:00
3. Partizipation/Personalisierung
Parlamentswahlen sind gleichzeitig Parteien- und Personenwahlen. Sieht man vom Ausnahmefall parteiunabhängiger Einzelbewerber ab, wählt man mit einer Person zugleich deren Partei und mit der Partei zugleich die sie vertretende(n) Person(en). Dies gilt im Prinzip für alle Wahlsysteme. In der Bundesrepublik schreibt der Verfassungsgrundsatz der unmittelbaren Wahl vor, dass die Personen dem Wähler als Bewerber vorab bekannt sein müssen; eine Änderung der Listenreihenfolge oder die nachträgliche Nominierung neuer Bewerber durch die Parteien sind damit ausgeschlossen.
Welche Bewerber am Ende ins Parlament gelangen, hängt von Parteien und Wählern ab. Die erstgenannten stellen die Bewerber vor den Wahlen auf. Damit geben sie den Wählern ein Personaltableau vor, aus dem diese auswählen bzw. dessen Umfang sie mit ihrer Stimme beeinflussen, das sie aber selbst nicht verändern können. Unter dem Gesichtspunkt der Partizipation ist wichtig, welche Auswahlmöglichkeiten der Wähler hat und wie stark er durch die Stimmgebung auf die personelle Zusammensetzung des Parlaments einwirken kann. Am geringsten sind die Einflussmöglichkeiten in einem Verhältniswahlsystem mit starren Listen, größer sind sie bei einer Personenwahl in Wahlkreisen oder bei Verfahren der Präferenzstimmgebung (Kumulieren und Panaschieren).
Das Partizipationskriterium darf mit dem Personalisierungsaspekt freilich nicht gleichgesetzt werden. Es umfasst auch die Möglichkeit, Einfluss auf die parteipolitische Zusammensetzung der Regierung zu nehmen bzw. über diese – und damit zugleich über die Person des Regierungschefs – in der Wahl zu entscheiden. Mehrheitswahlsysteme erfüllen diese Anforderung in der Regel besser als Verhältniswahlsysteme, bei denen Parlaments- und Regierungswahl mehr oder weniger stark entkoppelt sein können. Zur Partizipation gehört des Weiteren, dass Wahlsysteme die Bürger zum Wählengehen ermuntern und so für eine hohe Wahlbeteiligung sorgen. Komplexe Stimmgebungsverfahren, die dem Wähler möglichst großen Einfluss auf die personelle Zusammensetzung des Parlaments sichern sollen, könnten hier sogar kontraproduktiv sein, wenn sie durch zu hohe Hürden von der Wahlteilnahme abschrecken oder einen steigenden Anteil ungültiger Stimmen nach sich ziehen.
Wie schneidet das heutige Zweistimmensystem unter den drei genannten Aspekten (Wahlbeteiligung, Regierungswahl und Personalisierung) ab? Was die Wahlbeteiligung angeht, weist es keine erkennbaren Probleme auf. Das System lässt sich leicht handhaben, obwohl die jeweilige Bedeutung von Erst- und Zweitstimme – wie gesehen – von einem Teil der Wähler nicht verstanden wird. Mit dem Wechsel zum Einstimmensystem wäre in dieser Hinsicht also kein Mehrwert verbunden. Was die Regierungswahl betrifft, liegen die Vorteile nur scheinbar auf der Seite des Zweistimmensystems. Leihstimmen für eine kleine Partei, um der favorisierten Koalition zur Mehrheit zu verhelfen, können auch in einem Einstimmensystem abgegeben werden. Dabei müsste der Wähler in Kauf nehmen, dass er den Wahlkreiskandidaten dieser Partei automatisch mitwählt, was seiner Präferenz für einen anderen Kandidaten womöglich zuwiderläuft. Insofern liegt die Vermutung nahe, dass die oben beschriebenen Vorteile des Einstimmensystems in puncto Einfachheit und Verständlichkeit mit Nachteilen bei der Personenwahl einhergehen.
Bei näherem Hinsehen entpuppen sich die vermeintlichen Vorzüge des Zweistimmensystems unter Personalisierungsgesichtspunkten jedoch weitgehend als Illusion. Der wichtigste Grund dafür liegt darin, dass sich die Wähler bei der Abgabe der Erststimme primär von ihrer Parteienpräferenz leiten lassen und nicht von der Person des Kandidaten: Die Zweitstimme zieht die Erststimme mit, nicht umgekehrt! Würde das Persönlichkeitselement eine größere Rolle
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